In vielen Geweben stellt die chronische Entzündung einen Risikofaktor für die Entwicklung
von Krebserkrankungen dar. Und auch die Entstehung eines kolorektalen Karzinoms (CRC)
wird durch eine langjährige Kolitis, wie sie im Rahmen von chronisch entzündlichen
Darmerkrankungen vorkommt, begünstigt.
Das Adhäsionsmolekül L1CAM (CD171) konnte in verschiedenen Tumorentitäten
nachgewiesen werden und vermittelt in diesen Tumoren u.a. Chemoresistenz und eine erhöhte
Migrationsfähigkeit der Tumorzellen. Auch in CRCs konnte eine erhöhte L1CAM-Expression
nachgewiesen werden, wobei diese einherging mit frühzeitiger Metastasierung und einem
deutlich verschlechterten Gesamtüberleben der Patienten. Aus Untersuchungen an
chronischen Pankreatitiden ist bekannt, dass L1CAM bereits unter entzündlichen
Bedingungen in nicht malignen Epithelzellen exprimiert werden kann.
Ziel dieser Arbeit war es zu überprüfen, ob L1CAM auch in intestinalen Epithelzellen
induziert werden kann und über welche zellulären Mechanismen die L1CAM-Expression
dabei vermittelt wird. Außerdem sollte untersucht werden, ob L1CAM in den nicht malignen
intestinalen Epithelzellen Eigenschaften vermittelt, die die maligne Entartung dieser Zellen
begünstigen könnten.
Die Versuche dieser Arbeit wurden in vitro mit der nicht tumorigenen intestinalen
Epithelzellline NCM460 durchgeführt. Da sich die Darmschleimhaut von Patienten, die an
einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung leiden, unter anderem durch erhöhte Spiegel
von Transforming Growth Factor ß1 (TGF-ß1) auszeichnet, wurde zunächst untersucht, ob
die Stimulation der NCM460-Zellen mit TGF-ß1 zur Hochregulation von L1CAM in den
Zellen führt. Nachdem dies bestätigt werden konnte, wurde weiterhin gezeigt, dass TGF-ß1
neben der Induktion der L1CAM-Expression bereits nach 24 Stunden zu morphologischen
Veränderungen in den NCM460-Zellen führt, wie sie im Rahmen der epithelialen
mesenchymalen Transition (EMT) beobachtet werden. Eine vermehrte Expression von
Vimentin oder eine verminderte Expression von E-Cadherin, zwei weitere EMT-assoziierte
Veränderungen, ließen sich nach 24- bzw. 48-stündiger Stimulation mit TGF-ß1 nicht
nachweisen. Desweiteren konnte gezeigt werden, dass der durch TGF-ß1 aktivierte Smad-
Signalweg nicht an der L1CAM-Expression in NCM460-Zellen beteiligt ist. Dagegen konnte
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eine Beteiligung des ebenfalls durch TGF-ß1 aktivierten JNK-Signalweges (c-Jun n-terminale
Kinase) an der L1CAM-Expression nachgewiesen werden. Infolge der Aktivierung von JNK
kam es zur Induktion des Transkriptionsfaktors Slug und zu dessen Bindung an zwei mögliche
Slug-Bindungsstellen im L1CAM-Promoter. Darüber hinaus konnte mit Luziferase-Assays
gezeigt werden, dass die Bindung von Slug an beide oder nur an eine der beiden
Bindungsstellen notwendig ist, damit es zur Aktivierung des L1CAM-Promoters kommt.
Es konnte ferner gezeigt werden, dass L1CAM zur Apoptoseresistenz in den NCM460-Zellen
gegenüber der Stimulation mit dem Todesliganden TRAIL (Tumor necrosis factor related
apoptosis inducing ligand) und dem Zytostatikum Irinotecan beiträgt. Darüber hinaus erhöhte
die Expression von L1CAM deutlich die Migrationsfähigkeit von NCM460-Zellen.
Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass L1CAM nicht nur in manifesten CRC, sondern nach
Stimulation mit TGF-ß1 bereits in nicht malignen intestinalen Epithelzellen exprimiert wird.
Durch die L1CAM-Expression erlangen die intestinalen Epithelzellen einen
apoptoseresistenten und promigratorischen Phänotyp und damit einen Überlebensvorteil, der
die Entstehung eines CRC aus diesen Zellen begünstigen könnte.
Die TGF-ß1-induzierte L1CAM-Expression könnte daher ein Mechanismus sein, über den es
im Rahmen einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung zur Entstehung eines Karzinoms
kommt