Einleitung Zu Beginn der 1960er-Jahre kamen in der westlichen Welt die
Benzodiazepine auf den Markt. Schnell wurden sie dort zu den meistverkauften
Medikamenten überhaupt. In der DDR waren sie jedoch aufgrund restriktiver
Importbestimmungen und ideologischer Bedenken zunächst nicht verfügbar. Die
Voraussetzung für einen Import oder die nationale Eigenproduktion war ein
positiver Bescheid zentraler, durch das Ministerium für Gesundheitswesen
gelenkter Ausschüsse und Gremien. Dieser wurde schließlich getroffen und man
begann die Substanzen zu analysieren und ab Ende 1967 zu produzieren. So
konnten in der Nervenklinik der Berliner Charité erste klinische Erfahrungen
mit den nun breit verfügbaren Benzodiazepinen gesammelt werden. Zielstellung
In einem mehrschrittigen Vorgehen habe ich die Jahre vor und nach der
Verfügbarkeit der Medikamente unter besonderer Berücksichtigung der Charité
von 1962-1975 untersucht. Ziel war es dabei erstens, die ärztliche Anwendung
der neuen Beruhigungsmittel zu charakterisieren. Zweitens sollte die
Sensibilität der Kliniker für das Abhängigkeitspotential der Medikamente
beurteilt werden. Drittens fragte ich nach dem Einfluss von DDR-Bürgern auf
die Entscheidung zur nationalen Produktion von Benzodiazepinen. Methodik Meine
Untersuchung basiert auf der Auswertung von Kranken- und Verwaltungsakten der
Nervenklinik. Nach einer explorativen Sichtung wurden folgende Kriterien für
eine Auswertung der Krankenakten festgelegt: 1. Die Anwendung von sedierenden
Medikamenten während des stationären Aufenthalts 2. Der dokumentierte Gebrauch
von Beruhigungsmitteln vor der stationären Aufnahme 3. Die Diagnose
Medikamentenmissbrauch oder -abhängigkeit. Es wurden drei Zufallsstichproben
von insgesamt 732 Akten aus den Jahrgängen 1962, 1968 und 1975 ausgewertet.
Bei allen Akten, welche die genannten Kriterien erfüllten, wurden Variablen
wie das Geschlecht, der soziale Status der Patienten, die Diagnosen und die
Anzahl der Behandlungstage mit einem Beruhigungsmittel bestimmt und die
Häufigkeiten für die Publikationen selektiv ausgewertet. Zusätzlich erfolgte
eine qualitative Analyse, welche etwa eine Beschreibung der
Indikationsstellung und die Beurteilung als Medikamentenabhängigkeit
ermöglichte. Weiterhin wurde die zeitgenössische wissenschaftliche Literatur
und Petitionen von DDR-Bürgern an das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR
ausgewertet. Ergebnisse und Schlussfolgerungen In einer ersten
Veröffentlichung stellte ich die ärztliche Anwendung der Benzodiazepine dar.
Diese orientierte sich stark an den verbreiteten Barbituraten. Nur
unzureichend konnten die neuen Präparate in das psychopathologische
Forschungsprogramm der Klinik integriert werden und wurden zunächst sehr
zurückhaltend eingesetzt. In einer weiteren Arbeit untersuchte ich die
Sensibilisierung für das Suchtpotential der Substanzen. Überraschender Weise
konnte diesbezüglich eine deutlich zunehmende Akzeptanz für die regelmäßige
Einnahme der Präparate in den 1970er-Jahren beobachtet werden. Schließlich
erörterte ich in einem dritten Aufsatz, wie die DDR-Bürger durch Petitionen an
das zuständige Ministerium die politische Entscheidung zur Produktion von
Benzodiazepinen beförderten.Introduction Benzodiazepines were launched on western markets at the beginning
of the 1960s and rapidly became blockbuster drugs. However, these drugs were
not available in the GDR due to import restrictions and ideological doubts.
The main prerequisite for importation or national production was a favourable
decision by centralized panels controlled by the Ministry of Health. Once this
decision was eventually taken, chemical analysis began and national production
was underway by the end of 1967. Clinicians at the Berlin Charité Nervenklinik
were then able to gain their first clinical experiences with the now widely
available benzodiazepines. Objectives I observed the years before and after
introduction of the benzodiazepines with a special focus on the Charité
between 1962-1975. I first aimed to characterize the application of the new
sedatives in clinical practice. Secondly, I observed the perception of their
addictive potential among clinicians. I thirdly asked how GDR citizens
influenced drug policy to achieve the national production of benzodiazepines.
Methods My study is based on an examination of the Charité-Nervenklinik’s
patient and administrative files. After an explorative survey, the following
criteria for further investigation were defined: 1. the application of
sedatives in the medications during hospitalisation; 2. the documented usage
of sedatives before admittance to the hospital; 3. diagnosis of drug abuse or
addiction. Three random samples from a total of 732 patient files were taken
from the volumes 1962, 1968 and 1975. Of all the files that met the above-
mentioned criteria, variables such as sex, social status, diagnosis and the
duration of application of a sedative were included and frequencies were
determined specifically regarding the scope of the publication. Additionally,
a qualitative analysis allowed for descriptions such as indication for
treatment and the evaluation of abusive behaviour. Furthermore, the
contemporary scientific literature and petitions of GDR citizens to the
Ministry of Health were examined. Results and conclusions In a first article I
portrayed the medical application of the benzodiazepines in clinical practice.
It was closely related to barbiturates, which had been in widespread use for a
considerable period of time. The drugs` application could not be matched with
the psychopathological research interests at the Nervenklinik and were in
limited use. In a second work, I examined the perception of the
drugs`addictive potential among clinicians. Surprisingly, an increasing
tolerance towards regular intake of benzodiazepines was observed in the 1970s.
And finally, in a third published work, I discussed how GDR citizens used
petitions to the Ministry of Health to push for a political decision on the
national production of benzodiazepines