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Wildt, Michael

Historische Zeitschrift

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oldenbourg DOI 10.1515/hzhz.2013.0409 417Neue Historische LiteraturDokumentation des HolocaustDie Quellenedition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Judenvon Michael WildtDie Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national-sozialistische Deutschland 1933–1945. Hrsg. im Auftrag des Bundesarchivs, des Instituts für Zeitgeschichte, des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und des Lehrstuhls für Geschichte Ostmitteleuropas an der Freien Universität Berlin von Götz Aly (Bd. 1 u. 2), Wolf Gruner (Bd. 1), Susanne Heim, Ulrich Herbert, Hans-Dieter Krei-kamp, Horst Möller, Gertrud Pickhahn u. Andreas Wirsching (ab Bd. 3), Dieter Pohl, Hartmut Weber (Bd. 1, 2, 4, 7). Bd. 1: Deutsches Reich 1933–1937. Bearb. v. Wolf Gruner. Bd. 2: Deutsches Reich 1938–August 1939. Bearb. v. Susanne Heim. Bd.3: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren. September 1939–Sep-tember 1941. Bearb. v. Andrea Löw. Bd. 4: Polen.September 1939–Juli 1941. Bearb. v. Klaus-Peter Friedrich unt. Mitarb. v. Andrea Löw. München, Olden-bourg 2008, 2009, 2011, 2012. 811, 864, 800 u. 751 S., je € 59,80.„Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozia-listische Deutschland 1933–1945“ (VEJ) ist eines der größten und aufwendigstenEditionsprojekte der neuesten Geschichte. Neben dem Institut für Zeitgeschichte inMünchen, dem Bundesarchiv und dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschich-418 Historische Zeitschrift // BAND 297 / 2013te an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau als Auftraggeber sindeine stattliche Zahl renommierter Fachhistorikerinnen und -historiker als Heraus-geber und Bearbeiter beteiligt. Geplant sind insgesamt 16 Bände, die chronologischund nach Ländern geordnet sind. Sie umfassen damit nicht allein das DeutscheReich, sondern sowohl die besetzten Gebiete in Nord-, Ost- und Westeuropa als auchdie Länder im deutschen Machtbereich wie die Slowakei, Rumänien und Bulgarien.Ein abschließender Band widmet sich dem Konzentrations- und VernichtungslagerAuschwitz.Begonnen hat die Publikation der Edition 2008, erschienen sind bislang siebenBände1, innerhalb der nächsten drei bis vier Jahre soll die Edition abgeschlossensein. Rechnet man den durchschnittlichen Buchumfang von rund 800 Seiten hoch,so wird am Ende ein Dokumentenkonvolut von annähernd 13000 Seiten zur Verfü-gung stehen – ein unschätzbares öffentliches Archiv zum Holocaust in deutscherSprache, das es bisher noch nicht gegeben hat.Zwar existierten bislang durchaus wertvolle Quelleneditionen wie die von Eber-hard Jäckel und Otto Dov Kulka herausgebenenen Stimmungsberichte von staatli-chen Stellen und Institutionen der NSDAP zur Judenverfolgung, die sich jedoch aufdeutsche Provenienzen beschränkten. Auch der bereits 1960 von polnischer Seiteveröffentlichte Dokumentenband „Faschismus – Getto – Massenmord“ stellte füretliche Jahre wichtige Quellen zur Verfolgung und zum Massenmord an den Judenaus polnischen Archiven zur Verfügung. Nach dem Fall des Kommunismus und derÖffnung der Archive in den Ländern des ehemaligen Ostblocks werden nun mit demVEJ-Projekt zum ersten Mal systematisch nicht nur deutsche Dokumente, sondernvor allem ausländische Quellen aus den besetzten Gebieten in deutscher Überset-zung publiziert und damit der Tatsache Rechnung getragen, dass die nationalsozia-listischen Massenverbrechen außerhalb Deutschlands, insbesondere in den „Blood-lands“ (Timothy Snyder) in Ostmitteleuropa, verübt wurden.Um der Fülle an Dokumenten Herr zu werden und der Edition ein spezifisches1 Die weiteren, separat besprochenen Bände sind: Bd. 5: West- und Nordeuropa. 1940–Juni 1942. Bearb.v. Katja Happe, Michael Mayer, Maja Peers. Mitarb.: Jean-Marc Dreyfus. München, Oldenbourg 2012. 879 S., €59,80 (Besprechung in Vorbereitung). – Bd. 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten I. Besetzte sowjeti-sche Gebiete unter deutscher Militärverwaltung, Baltikum und Transnistrien. Bearb. v. Bert Hoppe u. Hil-drun Glass. München, Oldenbourg 2011. 891 S., € 59,80 (Besprechung von Alex J. Kay in: HZ 296, 2013, 557–559). – Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941–1945. Bearb. v. Klaus-Peter Friedrich. München, Ol-denbourg 2013. ca. 800 S., € 59,80 (Dez. 2013).NEUE HISTORISCHE LITERATUR / BUCHBESPRECHUNGEN ALLGEMEINES 419Profil zu geben, haben die Editoren wichtige Vorentscheidungen getroffen. Sowerden nur zeitgenössische Dokumente aufgenommen. Erinnerungsberichte, dienach dem Krieg entstanden, finden ebenso wie juristische Quellen zur Strafverfol-gung der Täter aus der Zeit nach 1945 keinen Eingang in das Editionsprojekt. NichtErinnerung und Aufarbeitung stehen im Mittelpunkt der Edition, sondern das his-torische Geschehen selbst. Das bedeutet keineswegs, dass die Sicht der Verfolgtenin den Bänden nicht auftauchen würde. Im Gegenteil, die Editoren legen großenWert darauf, dass Briefe, Tagebuchnotizen und andere Selbstzeugnisse von verfolg-ten Jüdinnen und Juden in der Edition vertreten sind. Aber diese Dokumente sol-len die zeitnahe Perspektive sichtbar machen und nicht die nachträglich formu-lierte Erinnerung an das Geschehen im Wissen um die Massenvernichtung doku-mentieren.Ist diese Entscheidung noch gut nachzuvollziehen, so ist die Festlegung der Edi-toren, nur schriftliche Quellen aufzunehmen, problematisch. Man muss nicht den„visual turn“ in der Geschichtswissenschaft zitieren, um die Bedeutung visuellerQuellen zu unterstreichen. Gerade für die Geschichte der Verfolgung und Ermor-dung der europäischen Juden sind Fotografien eine unverzichtbare Quelle, nichtnur was die mittlerweile zu Ikonen gewordenen Bilder von den Szenen an den Er-schießungsgräben betrifft, sondern auch hinsichtlich der Boykottaktionen, den öf-fentlichen Misshandlungen von Juden, den Deportationen oder den Versteigerun-gen jüdischen Eigentums. Bildquellen zeigen die Menschenmengen vor den zerstör-ten Geschäften und brennenden Synagogen im November 1938 oder die komplizen-hafte Beteiligung an den mörderischen Pogromen in Galizien, dem Baltikum undder Ukraine 1941. Nicht zuletzt riefen zahllose antisemitische Plakate in Deutsch-land wie im übrigen Europa zu antijüdischem Hass auf und prägten eine visuelleVorstellung vom „Juden“, die sowohl Kontinuitätslinien aus dem 19.Jahrhundertaufgriff als auch in die Zeit nach 1945 fortwirkte.Begründet wird der Verzicht auf Bilder mit der wenig überzeugenden These, dassFotografien allenfalls Ereignisse, nicht aber Entwicklungen und Motive von Ent-scheidungen und Handlungen dokumentierten. Wahrscheinlich mögen eher prag-matische Gründe den Ausschlag gegeben haben, auf Bildquellen zu verzichten, dasie in gedruckten Büchern großen Raum beanspruchen und in Archiven nicht mitderselben Systematik und Gründlichkeit gesammelt werden wie schriftliche, insbe-sondere staatliche Quellen. Dennoch hätte es durchaus Alternativen gegeben, Bilderzum Beispiel in einem eigenen, separaten Band zu präsentieren oder, angemessener420 Historische Zeitschrift // BAND 297 / 2013und moderner, als Supplement zu den jeweiligen Bänden im Internet. So bleibt einDesiderat dieser Edition erhalten, das künftig bearbeitet werden sollte.Innerhalb dieser selbst gesteckten Grenzen jedoch muss die Edition mustergültiggenannt werden. Bezogen auf die hier zu besprechenden ersten drei Bände, die dieVerfolgung der Juden im Deutschen Reich von 1933 bis zum Kriegsbeginn sowie dieZeit vom September 1939 bis September 1941 in Deutschland und dem seit März1939 besetzten Tschechien, dem sogenannten Protektorat, umfassen, also bis zumBeginn der systematischen Deportationen im Oktober 1941, ist die Vielzahl undMultiperspektivität der Dokumente beeindruckend. Neben staatlichen Quellen undDokumenten der nationalsozialistischen Verfolgungsinstitutionen finden sichTagebucheinträge, Artikel aus der gleichgeschalteten wie der jüdischen und auslän-dischen Presse, Briefe, Beschwerden jüdischer Organisationen oder Berichte vonEmigranten. Die Anregung des Oberlandrats in Brünn vom Juli 1941, Juden das Fahr-radfahren zu verbieten, ist ebenso zu lesen wie das ironische Gedicht eines tschechi-schen Juden aus dem Jahr 1940 über die Vorzüge, im Protektorat zu leben. Die zen-trale Besprechung bei Göring am 14.Oktober 1938 über die wirtschaftliche Kriegs-vorbereitung und den Raub jüdischen Vermögens ist ebenso dokumentiert wie dieEntscheidung des Obersten Parteigerichts der NSDAP, das Verfahren gegen zwei SA-Männer einzustellen, die im ostfriesischen Lesum am 9.November 1938 ein jüdi-sches Ehepaar und einen jüdischen Mann in ihren Wohnungen erschossen hatten.Raul Hilberg hat in seiner bis heute maßgeblichen Studie zur Vernichtung dereuropäischen Juden festgestellt, dass es keiner eigenen Behörde oder Institutionbedurfte, um die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen zu bewerk-stelligen, sondern der hergebrachte administrative Apparat willig diese Aufgabevollbracht hat. In den VEJ-Editionsbänden ist zu lesen, wie sich die deutsche Gesell-schaft an der Verfolgung, der Ausplünderung, der Vertreibung beteiligte, dass es kei-ne Instanz, keinen gesellschaftlichen Bereich gab, der nicht davon berührt, darin in-volviert gewesen wäre.Aber ebenso lässt sich in den Bänden der Selbstbehauptungswille der verfolgtenJuden finden, die Hoffnung wie die Verzweiflung, wenn die Möglichkeiten zu ent-kommen immer geringer wurden. Man liest von der Würde von Menschen, die ihreErniedrigung schmerzvoll registrierten und dennoch sich nicht unterwarfen oderauslieferten, vielmehr das gemeinsame Band untereinander stärkten, die Familie zu-sammenzuhalten suchten oder alle Kontakte ins Ausland nutzten, damit doch nochdie Flucht gelänge.NEUE HISTORISCHE LITERATUR / BUCHBESPRECHUNGEN ALLGEMEINES 421Saul Friedländer hat gefordert – und mit seinen eigenen Bänden selbst unterBeweis gestellt –, dass die Geschichte der Shoah nur als eine „integrierte Geschichte“zu schreiben sei, die sowohl die Verfolgungsabsicht der Täter in den Blick nimmtwie die Perspektive und die Selbstbehauptung und Widerstand der Verfolgten, aberauch die Gleichgültigkeit, das Mitmachen so vieler „Volksgenossinnen und Volks-genossen“, die eben nicht bloße Zuschauer oder „bystanders“ waren, sondern vonder Verfolgung in der einen oder anderen Weise profitierten. Eben eine solche „in-tegrierte Geschichte“ ist den Herausgebern und Bearbeitern dieser Edition gelungen.Den Dokumenten ist jeweils eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die aufder Grundlage der neuesten Forschung den historischen Kontext erläutert und denZusammenhang der Dokumente herstellt. Die jeweiligen Quellen sind stets mitihrem Originalfundort verzeichnet, und gleichfalls wird notiert, wenn sie schon ineiner früheren Ausgabe abgedruckt worden sind. Handschriftliche Vermerke undgegebenenfalls wichtige Charakteristika zur Materialität wie Überlieferung derQuelle sind kenntlich gemacht. Sowohl die genannten Personen werden biogra-phisch erklärt als auch jeweils wichtige Hintergrundinformationen zum Text gebo-ten. Verweise in den Quellen auf Publikationen, Zeitungen, Gesetze, Verordnungenwurden nachgeprüft und mit entsprechenden Belegen, zum Teil mit Originalzita-ten, erläutert. Jedem Band ist ein Register der Institutionen, Firmen, Zeitschriftensowie der Personen und Orte beigefügt.Spät, aber doch noch haben sich Herausgeber und Verlag entschlossen, es nichtnur bei der gedruckten Ausgabe der Edition zu belassen. Sie wird nun, allerdings lei-der bislang nur für Bibliotheken, auch in digitalisierter Form angeboten, was nichtnur zeitgemäßen Formen der Informationsgewinnung, vor allem von Studierenden,entspricht, sondern vor allem auch eine Volltextrecherche möglich macht, die überdas Register hinausreicht.Prof. Dr. Michael Wildt, Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl Deutsche Geschichte des 20. Jahrhun-derts, Schwerpunkt im Nationalsozialismus, Unter den Linden 6, 10099 Berlin

Die Quellenedition zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden

https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/18452/27521/4/10.1515_hzhz.2013.0409.pdf

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