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    Modellierung dynamischer Güterflüsse zur Analyse von Risiken in der Lebensmittelversorgung

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    Die zuverlässige Versorgung mit Lebensmitteln ist ein wesentlicher Teil der Daseinsvorsorge. In Deutschland wird diese herausfordernde Aufgabe durch die Zusammenarbeit einer Vielzahl privatwirtschaftlicher Akteure bewältigt. Grundvoraussetzungen für eine zuverlässige Versorgung sind dabei die Funktionstüchtigkeit von Infrastrukturen sowie die Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen weiterer Sektoren. Extreme Ereignisse wie Stromausfälle, Hitzewellen oder Pandemien stellen Gefahren dar, deren Eintritt dieses komplexe und dynamische System der Lebensmittelversorgung signifikant beeinträchtigen kann, mit entsprechend schwerwiegenden Folgen für die Bevölkerung. Die bestehenden Notfallkonzepte staatlicher wie privatwirtschaftliche Akteure sind derzeit nicht darauf ausgelegt, durch frühzeitige Eingriffe die Auswirkungen extremer Ereignisse auf die Lebensmittelversorgung abzumildern, um beispielsweise schwerwiegende Arbeitskräftemängel oder großflächige, anhaltende Ausfälle technischer Basisinfrastrukturen überbrücken zu können. Derartige Planungen erfordern quantitative Analysen, welche die wirtschaftliche Verflechtung, räumliche Struktur und zeitliche Dynamik des Lebensmittelversorgungssystems hinreichend berücksichtigen. Rein statische Analysen bestehender Statistiken genügen für solch eine integrierte Betrachtung nicht. Um mögliche Risiken aufzudecken, müssen aussagekräftige Indikatoren, wie zum Beispiel Bestandsentwicklungen und erforderliche Transportkapazitäten, bestimmt werden. Hierzu ist ein quantitatives Modell erforderlich, das die Lebensmittelversorgung simuliert und dabei die Abhängigkeiten, die sich aus dem wirtschaftlichen, räumlichen und zeitlichen Kontext von Produktion, Lagerung, Transport, Handel und Konsum ergeben, wirklichkeitsnah auf Basis von Realdaten abbildet. Die bestehenden Forschungsarbeiten in diesem Bereich fokussieren auf qualitative Risikoanalysen oder beschränken die Betrachtung auf abgegrenzte Subsysteme, wie einzelne Unternehmen, spezifische Lieferketten oder ausgewählte Räume. Risiken, die aus der Dynamik und Komplexität des gesamten Lebensmittelversorgungssystems entstehen, können bisher nicht umfassend analysiert werden. Die vorliegende Arbeit adressiert diesen Forschungsbedarf, indem ein makroskopisches und gleichzeitig detailliertes, dynamisches Güterverkehrsnachfragemodell der deutschen Lebensmittelversorgung entwickelt wird. Das Modell namens FOODFLOW unterscheidet 51 Gütergruppen in drei Temperaturbereichen. Die wirtschaftlichen Verflechtungen dieser Gütergruppen werden im Rahmen einer Input-Output-Analyse identifiziert. Das daraus entstehende sektorale, physische Input-Output-Modell wird mittels räumlichen Verflechtungen zu einem MSMRIO-Modell erweitert. Dafür werden zuerst Güteraufkommen und Nachfrage auf 402 Regionen innerhalb Deutschlands sowie die 50 wichtigsten internationalen Handelspartner verteilt. Dabei wird das gesamte Versorgungssystem inklusive Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung, Großhandel, Lebensmitteleinzelhandel sowie Endkonsumenten abgedeckt. Durch Kalibrierung an Daten der Bundesverkehrswegeplanung werden realistische Ergebnisse gewährleistet. Das dafür entwickelte Kalibrierungsverfahren kombiniert Gravitations- und Optimierungsmodelle. Auf dieser Basis werden die Verläufe der Bestände und benötigten Transportkapazitäten aller Gütergruppen, Akteursgruppen und Regionen simuliert. Basisjahr für die Modellanwendung ist 2012 mit einer tagesgenauen Auflösung. Die resultierenden Anwendungsmöglichkeiten werden an vier Beispielen verdeutlicht: Zuerst wird mit FOODFLOW die Vulnerabilität der deutschen Regionen anhand verschiedener Indikatoren veranschaulicht. Anschließend wird am Beispiel des EHEC-Ausbruchs von 2011 gezeigt, wie die kalibrierten räumlich-wirtschaftlichen Verflechtungen zur Verfolgung von lebensmittelbezogenen Krankheitsausbrüchen genutzt werden können. Neben diesen statischen Anwendungen ist es mit FOODFLOW erstmals möglich, die Ausbreitung von Störungen in der Lebensmittelversorgung räumlich und zeitlich nachzuvollziehen und dadurch die Auswirkungen für die Endkonsumenten abzuschätzen. Diese Funktionalität wird anhand der Szenarien der Sperrung des Hamburger Hafens sowie einer extremen Steigerung der Getränkenachfrage im Großraum Berlin veranschaulicht. Mit der Implementierung von FOODFLOW wird gezeigt, dass es möglich ist, ein dynamisches Güterflussmodell der Lebensmittelversorgung durch Kombination und Interpretation verfügbarer Daten zu entwickeln. Die hohe räumliche Auflösung sowie die akteursgruppen- und tagesgenaue Abbildung der Systemdynamik erlauben es, auch unterjährige Entwicklungen und Abhängigkeiten zu identifizieren. Damit ermöglicht FOODFLOW erstmals eine umfassende Analyse der Vulnerabilität der deutschen Lebensmittelversorgung sowie der Störungsauswirkungen für die betroffene Bevölkerung. Außerdem kann der Umfang bestimmter reaktiver Maßnahmen, etwa die zusätzlich entstehende Güterverkehrsnachfrage, sowie der Einfluss bestimmter präventiver Maßnahmen prognostiziert werden. Diese Ergebnisse erhöhen die Transparenz des Lebensmittelversorgungssystems und ermöglichen eine verbesserte Krisenprävention auf nationaler Ebene. Die vorliegende Arbeit leistet damit sowohl einen Beitrag zur Forschung als auch zur Sicherung der Lebensmittelversorgung
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